Mütterchen Russland: Kennenlernen und Wiedersehen


Nach der turkmenischen Grenzerfahrung finden wir uns spät am Abend im Jeep eines schweigsamen Taxi-Fahrers wieder, der uns zu Co-Piloten seines Dakar-Rally-ähnlichen Unterfangens befördert...
160 km rasen wir mehr off- als onroad über staubige Pisten, werden durchgerüttelt und geschüttelt, fallen in scharfen Kurven übereinander und heben das ein oder andere Mal ein paar Zentimeter von der endlosen, menschenleeren Steppe ab. Über unseren Köpfen bildet die untergehende Sonne ein rotgoldenes Inferno an wolkendurchbrochenem Lichtspektakel, verschmilzt den Horizont mit der Erde. Und irgendwann sind wir uns gar nicht mehr so sicher, ob wir nicht schon längst irgendwo in der Farbflut der Himmelsstraßen dahinschwimmen.

Irgendwann betätigt der Fahrer die Bremsen ein letztes Mal und wir sind angekommen in der ersten Menschenansammlung seit Langem (Schangösen). Der Taxifahrer möchte auf gar kein Fall bezahlt werden und zu erschöpft zum Diskutieren werfen wir uns in die sanften Federn der nächsten Schlafgelegenheit.

Endspurt nach Russland

Nach den Wüsten Turkmenistans, in Kasachstan aus unerfindlichen Gründen Steppe genannt, wollen wir wieder ans kaspische Meer und finden in Aktau über Couchsurfing eine herzliche Gastgeberin namens Salina, die ihre Zeit am liebsten reisend in Italien verbringt. Aktau selbst ist eine merkwürdige Mischung aus alten Sowjetbauten und modernen Einkaufs- und Bespaßungszentren, die vom Meer in die staubige Steppe hereingewachsen ist. Trotz ausufernder Strandspaziergänge und weiterer spektakulärer Sonnenuntergänge merken wir, dass für uns die Zeit reif ist, irgendwo dauerhafter anzukommen, und bekanntermaßen geht das am Besten bei Verwandten. Gedacht und fast schon umgesetzt, entscheiden wir uns die 1400 km  vor uns liegender Steppe bis zu Julies Verwandten im Eiltempo zu durchqueren. Von morgens bis abends stehen wir nun an der Straße und lassen die - gelinde gesagt - facettenarme Landschaft an uns vorüber ziehen. In metallenen Käfigen preschen wir durch die endlosen Weiten aus Staub und Nichts, die nur durchbrochen wird von majestätisch schlendernden Kamelen. Dorfähnliche Gebilde wie Orlik oder Bynu geben der Einsamkeit einen Namen und hilfsbereiten Menschen ein Zuhause. Heerscharen von kleinen schwarzen Käferchen setzen sich in Lunge und Augen und wirken als ganz großartige Motivatoren aus der Einöde zu entfliehen.

Die ganze Breite der landschaftlicher Vielfalt West-Kasachstans

Abendessen bei Sonnenuntergang

Unser Zeltnachbar, ebenfalls beim Abendessen

Erkunden der Sehenswürdigkeiten mitten in der Steppe

Adoption auf offener Straße

Kurz vor der kasachisch-russischen Grenze wollen wir dann doch einen kurzen Zwischenhalt in der größeren Stadt Oral (russisch: Uralsk) machen. Während wir noch nach dem Weg zu einem Hostel fragen, stibitzt uns eine dynamisch-beleibte Großmutter namens Damelya im Watschelgang von der Straße. Gerade erst in die Stadt gezogen, um ein bisschen Ruhe von ihren Kindern zu bekommen, scheint es für Damelya eine Ehrensache uns mit aller großmütterlichen Liebe zu bekochen und nebenbei Töpfe heißen Wassers für eine dringend benötigte Dusche aufzusetzen. Entstaubt und frisch bekleidet setzen wir uns an einen Abendbrottisch, auf dem sich in fröhlicher Reihenfolge allerlei lokaler Spezialitäten tummeln. Neben mit Hack gefüllten gebratenen Paprikaschoten, Tomaten und Gurken in Dill-Dressing, gibt es Beschbarmak und kasachischen Kongnak. Eine dazugerufene Freundin Damelyas, eine Lokalreporterin, erwischt uns bei der Abschluss-Teerunde mit milchigem Tee, geröstetem Weizen und rauchigen Butterstücken. Kurzerhand wird wieder zu Kognak gewechselt und wir werden eingeweiht in die Kultur der kasachischen Trinksprüche, die mal ausgelassen, mal feierlich, meist im Mechlacholischen verankert eine Ausdauerprobe für die Armmuskeln darstellt. Angeseuselt sollen wir, das heißt Julie (russisch ist unumgänglich geworden), den Sinn und Zweck unseres Abenteuers definieren, damit die Uralsker Bevölkerung davon in der Zeitung lesen kann, und zum Abschluss dann noch ein paar (Erinnerungs-)Fotos.

Jonathans skeptischer Blick auf das kasachische Nationalgericht Beschbarmak

Julies erste Heimat

Nach drei Tagen liebenswürdiger Bemutterung durch Dameyla und ihrer inzwischen dazugestoßenen Tochter verabschieden wir uns von Kasachstan und fahren mit dem Zug nach Sol-Iletzk / Russland. Dort erwarten uns die Verwandten Marina (Julies Cousine), ihr Mann Andreij und Tyot' (Tante) Valja. Julies letzter Erinnerung nach war Marina ein 20-jähriges Mädchen in den Startlöchern ihres Lebens und jetzt steht da eine gestandene Frau mit ihren Kindern Anitschka und Kyrill. Es gibt also eine Menge aufzuholen und in gemütlichen Schwarztee-Abenden tauschen wir 17 Jahre Erfahrungen aus Ost und West. An den Tagen entdecken wir Julies "Heimat"-Städtchen neu. Die um ein Salzbergwerk mit Gefängniskolonie gegründete Stadt prunkt auch heute noch mehr mit den Salzseen, die die Stadt weit über die Oblast-Grenzen als Kurort bekannt macht, als mit seinem Innenstadtgefängnis.

Kräftemessen mit der jungen Verwandschaft

Langsame Tage mit russischen Snacks und viel schwarzem Tee


In Sol-Iletzk kehrt wieder ein bisschen Ruhe in unser reisendurchwütetes Leben. Mit den passionierten Sportfans der Familie lassen wir uns vom Weltmeisterschaftsfieber anstecken und feuern erst die russische, dann die deutsche und dann lieber wieder die russische Mannschaft bei ihren Spielen an. Mit geliehenen Fahrrädern erkunden wir die Umgebung bei einem Ausflug an den nahe gelegenen Fluss und wagen unsere ersten und leider erfolglosen Angelversuche. Nach der Aufregung der vergangenen Wochen ist es erfrischend sich wieder wie ein "normaler" Mensch zu fühlen. Diese Entschleunigung und Alltäglichkeit des Lebens tut so gut, dass selbst die seit langer Zeit zum ersten Mal aufkommende Langweile, nach den Turbulenzen der Vergangenheit eine willkommene Abwechslung darstellt.

Spaziergang durch Sol-Iletzk

Erkunden der Orenburger Steppenlandschaften

Seltsame Gewächse

Erfolglose erste Fischversuche mit unseren schnieken und von lokalen Fischern müde belächelten Handangeln

Russisches Landleben

Nach einer Woche Seelebaumelnlassen im Kurort geht es zu weiteren Verwandten auf ein russisches Dorf nahe Alexandrovka im Orenburger Oblast. Mit Dyadya Sasha (Onkel Alexander), Tyot' Ira (Tante Irina) und ihren Söhnen Seriyosha (Sergei) und Sasha (auch Alexander, aber jünger) dürfen wir das ganz normale Dorfleben in Russland erfahren. Wir werden enthusiastisch willkommen geheißen und feuchtfröhlich in die Familie integriert. Erst zerkochen wir jedes Bakterium in unserem Körper in der hoch erhitzten russischen Banya (Sauna) und klatschen die Geister wach mit nassen Veniki (Birkenzweigen). Dann folgt ein reiches Festmahl an Hühnchen, Ofenkartoffeln, in Essig eingelegtem Gemüse und Salzfisch; dazu gibt es Bier und natürlich Samagon (Selbstgebrannter).

Steppenunterricht von Dydya Sascha

Abendlicher Spazierganz

Mit ein bisschen Uchti (in etwa: Ups!) am Abend wachen wir am Morgen spät und noch nicht ganz sicher auf den Beinen zum Duft von Aladi mit Slievki (kleine dicke Pfannkuchen mit reicher Sahne) auf. Fürs echte Dorfleben hätten wir eigentlich um 7 Uhr aufstehen müssen, um die 2 Milchkühe zu melken und mit den Ziegen zum Hirten auf die Wiese zu treiben, denn für die Tiere gibt es weder Urlaub noch Sonntag, aber das bleibt den Gästen aus Deutschland dankenswerterweise erspart. Dafür müssen wir andere wichtige Aufgaben übernehmen wie die 2 Kälber, 2 Katzen und 2 Hunde streicheln, frisch geworfene Lämmchen von der Wiese holen und vor allem das ganze leckere Essen von Tyot' Ira verschlingen.

Zwei Lämmchen erblicken das Licht der Welt <3

Kunterbuntes Bauernhof-Treiben


Jonathans Lieblingsbeschäftigung: Kälber streicheln. Lieblingsbeschäftigung der kleinen Marta dabei: Jonathans Hand anschlabbern.


Um dann unsere Hände "sinnvoll" zu betätigen, wässern wir abends den Garten und helfen beim Hühnerschlachten. Der ältere Sohn (Seryosha) heiratet nämlich sehr bald und die Vorbereitungen fürs Hochzeitfest waren im vollen Gange. 16 Hühnchen mussten ihren Kopf lassen, wurden von uns gerupft, abgeflammt, geputzt und ausgenommen. Eine sehr andersartige, aber gute Erfahrung, da wir zum ersten Mal am gesamten Verarbeitungsweg eines Hühnchens teilnehmen, statt die billige Putenbrust aus der Tiefkühltruhe des nächsten Supermarkts in die Pfanne zu werfen.


Sonnenbaden...

vorher - nachher


Da Dyadya Sasha ein passionierter Jäger ist und wir in Russland, kommen wir auch zu unseren ersten Schussübungen mit einer Schrotflinte. Der Wind summt leise sein Schlaflied für sich wiegende Gräser der Feldkante. Ein paar einsame Krähen krächzen auf der Suche nach Beute und setzen sich erwartungsvoll in die angrenzenden Baumspitzen. Während im Kopf die ersten Takte der Melodie von "Spiel mir das Lied vom Tod" beginnen, versperrt 25 Meter vor uns der heutige Duellant Plastikflaschen-Joe den Feldweg. In Sekunden wird das Gewehr gebrochen, die Munition eingelegt, zusammengeklappt und angelegt. Eine halbe Sekunde Mitleid kann den Schuss nicht verhindern und treffsicher finden einige Schrotkugeln ihr Ziel. Langsam sprudelt das Wasser aus Plastikflaschen-Joe und statt zusammenzusacken kippt er einfach abrupt um. Lauter Jubel wird in der begleitenden Meute breit. Erwischt! Plastik-Joe wird wieder aufgestellt und muss dem nächsten Kombatanten die Stirn bieten.

Lucky Julie schießt schneller als ihr Schatten


Tyot' Ira: eine weitere herausragende Schützin in der Familie

Nach den Schussübungen folgen mit dem jungen Sasha noch weitere (für uns unerfolgreiche) Angelversuche am Teich, bei denen wir den einen oder anderen Busch, aber keinen Fisch erwischen. Kurz bevor wir wieder nach Sol-Iletzk fahren beginnt dann der Steppensommer mit konstanten 37 °C, dessen beherrschende Hand den Alltag erdrückt. Erträglich wird die Hitze nur im eilends aufgestellten Swimmingpool.

Zurück im Kurort wird es nur noch heißer. Wir verbingen einige schöne Tage beim gemeinsamen Manti-Zubereiten (gedämpfte Fleisch-Teigttaschen) und Unkrautrupfen, bis es bei mittlerweile 40 °C nicht mehr aushalten ist und wir der Hitze entfliehen in die kühleren Ausläufer des Uralgebirges.

Towarish Lenin, wir hätten Sie nicht wiedererkannt...

Sol-Iletzker Familienfoto zum Abschied



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