Vietnam: Pfade des Ho Chi Minh oder Vom Vielfahrenden Stahlross



Das große Reich der Mitte und das Volk der Volksrepublik China haben uns zwei Monate nicht nur behaust und bewirtet, sondern mit seiner Vielfältigkeit und Andersartigkeit auch in Atem gehalten. Der lange Atem des Winters jedoch, den wir nach den frischen Nächten der Mongolei abgehängt dachten, war trotz unserer Strategie der heimlichen Rückzüge in südlichere Gefilde nicht von seiner Verfolgungsjagd abzuhalten.


Uns blieb nicht viel übrig als mit entschlossen zitternden Schritten dem 3°C-Süden Chinas den Rücken zu kehren.  Mit viel Hoffnung auf Sonnenschein und Strandurlaub marschierten wir über die Landesgrenze nach Vietnam. Vor unseren Augen breitete sich die nicht minder große Region Südostasien aus wie eine Sommerfrucht reif und bereit gepflückt zu werden.

In Vietnam sollte eine neues Kapitel unserer Reise beginnen. Nachdem wir nun über 25.000 Kilometer zumeist trampend zurückgelegt, Stunden und Tage lang den Daumen rausgehalten und an Straßen und Tankstellen gewartet sowie in Hunderten verschiedener Fahrzeuge gessesen haben, war es Zeit für einen Wechsel. Nun hat uns mangelnde Erfahrung schon vom Pferdekauf in der Mongolei abgehalten - gute Gründe, Vom-Sattel-Fallen, Verantwortung für das Tier und Blah, Blah. Diesmal hatte sich mangelnde Erfahrung also disqualifiziert! Ein Ross musste her und wenn auch ein stählernes. Wir entschieden uns für die Weiterreise auf zwei motorisierten Rädern und tausend romantischen Sonnenuntergangsbildern im Gepäck.

Chaotische Straßen von Hanoi, aber herzlich lächelnde Menschen

Die kilometerfressende Bestie "Schmetterwurm"

Wir wollten uns ein Motorrad kaufen. Und wie immer, wenn man im Leben so gar nicht weiß, wie etwas geht, probiert man's aus und lernt. Zwei aufregende und regnerische Tage in Hanoi brachten uns bei, was ein akzeptabler Preise ist und wie das eigentlich funktioniert mit dem Schalten, Gasgeben und gleichzeitigem Lenken. Testfahrten wurden gefahren, Preise verglichen, und irgendwann stand er vor uns: unser neuer Begleiter, der "Schmetterwurm". Für nur 240 Dollar ist uns dieses altersschwache Motorrad mit Schmetterlingen auf der Front zugelaufen. 

Zu zweit auf einer kleinen gefälschten (also chinesischen) Honda mit an den Seiten aufgeschnallten Rucksäcken sollten wir uns nun durch die bergigen Straßen Vietnams schlängeln. Ohne Fahrerfahrung und vor allem ohne Führerschein, aber auf solche Kleinigkeiten achtet in Vietnam eh niemand und wir waren fest entschlossen weder uns noch irgendjemand anderes umzubringen - was konnte uns also schon passieren.

Auf geht's durch Schlamm, Matsch und Huckelpiste! Der Schmetterwurm ist mit uns zwei Schwergewichten und den großen Rucksäcken ein wenig überladen.

Im Norden gibt es noch viele Karstberge und für den Beifahrer nicht viel zu tun. Also Photos machen und Landschat genießen.

Die ersten Tage waren hauptsächlich gruselig, denn der Straßenverkehr in Vietnam ist pures Chaos. In Abwesenheit jeglicher Fahrregeln, gleicht das Fahren dort eher einem Kampf von Groß gegen Klein und mit einem Motorrad steht man eben am unteren Ende der Nahrungskette. Grundsätzlich könnte man folgende Empfehlungen herausarbeiten:
  • Rechne mit allem, von allen Seiten zu jeder Zeit: ob das Hühner, Hunde, Kühe oder Ziegen sind, die vor dir einfach auf die Straße laufen - Kinder oder Erwachsene - oder der Gegenverkehr mal eben auch deine Spur benutzt und dich von der Straße drängt - alles ist möglich. Hat man das einmal wirklich verinnerlicht, lebt es sich leichter, denn man ist nicht mehr ganz so leicht aus der Fassung zu bringen.
  • Hupe so viel du kannst. Niemand benutzt Rückspiegel oder irgendwelche Spiegel, niemand macht Schulterblicke, niemand schaut auch nur irgendwie auf die Straße, bevor er sie betritt oder befährt. Wenn du auf der Straße bist, ist es deine Aufgabe dir den Weg freizuhupen.
  • Halte dich von Bussen fern. Sie sind groß, schwer und schnell. Wenn der Bus deine Spur braucht, was machst du dann noch auf der Straße?
  • Ein persönlicher Profi-Geheimtipp: Vergiss nicht zu tanken! Da unsere Tankanzeige (im Übrigen wie auch unsere Geschwindigkeitsanzeige) nicht funktioniert, mussten wir diese Lektion auf die harte Tour lernen, mehrfach... Seit dem hatten wir immer auch Ersatzbenzin dabei.
Ein Wasserfall am Wegesrand. Mit dem Motorrad sind wir endlich so mobil und eigenständig, dass wir mal eben hier oder dort anhalten können, ohne uns wie beim Trampen Gedanken über Uhrzeit und den nächsten Ride machen zu müssen.

Power-Nap auf Power-Bike: Lange Fahrten machen müde und der Schmetterwurm ist eine hervorragende Kurzzeitliege

Der Schmetterwurm fordert neben Benzin auch Blutzoll: Die Speichen des Hinterrads geben während der Fahrt auf und ein schwankendes Motorrad wirft uns in den Staub. Die Wunden heilen schneller als das Vertrauen in den Schmetterwurm.


Das erste Mal Ozean (südchinesisches-vietnamesisches Meer) seit - naja - seit ewig. In Zentralvietnam sind die Strände zumeist sehr einsam, aber leider auch stark vermüllt. Und das Wetter - seht selbst.

Das Vietnam der Vergangenheit

Während der Schmetterwurm uns also in gemächlichen Tempo Kilometer um Kilometer in den vietnamesischen Süden trug, hatten wir genügend Zeit uns von seinem Rücken Gedanken über das Land zu machen, dass so langsam und schön an uns vorüberzog. 

Vietnam ist der westlichen Welt vor allem wegen eines langjährigen und grausamen Kriegs mit den USA bekannt. Und sicherlich haben die Klauen des Krieges tiefe Wunden hinterlassen. Doch schon lange vor dem Waffengang um ein kommunistisches oder militärjunta-geführtes Vietnam mussten sich die Vietnamesen mit über 1000-jähriger chinesischer Besetzung und einem Programm der Sinifizierung (Verdrängung vietnamesischer Sitten und Traditionen durch chinesische) auseinandersetzen. Der Widerstand gegen Invasoren und das Wissen um alltäglichen Überlebenskampf sind quasi Staatserbgut.

Vietnamesische Tempel in Zentralvietnam. Man sieht doch eine gewisse kulturelle Verwandheit mit den Chinesen.

Es gibt tausende Tempel, die man besichtigen kann. Zum Glück gibt es auch viele Bänke, wenn der Forschungsdrang mal nachlässt.

Ein Blick über den Hai Van Pass in Zentralvietnam.

Turbulente Phasen der Eigenständigkeit wurden von chinesischer Dominanz abgewechselt und Mitte des 19. Jahrhunderts kamen auch noch die Franzosen mit kolonialen Gelüsten. Als die 1954 aus dem Land vertrieben werden konnten, war der kalte Krieg schon in vollem Gange und die USA wollten auf gar kein Fall ein weiteres Ex-Kolonialland dem Kommunismus verfallen sehen. Ein neuer Krieg begann, der ein Nationaltrauma in den USA und unermesslichen Schaden in Vietnam hinterließ.

Gegen die technologisch übermächtigen USA setzte Nord-Vietnam unter seinem Führer Ho Chi Minh vor allem auf einen nervzerrüttenden Guerilla-Krieg, bei dem Überraschungsangriffe und schnelle Rückzüge in dichten Dschungel, eine wichtige Rolle spielten. Um die tief im feindlichen Gebiet verstreuten Guerillas versorgen zu können, mussten Wege über steile Bergpässe und  durch dichteste Dschungelwälder gefunden werden. Unter beständigem Bombenhagel der USA schleppten Ströme von Soldaten Waffen, Munition und Versorgung zumeist auf dem Rücken über mehrere tausend Kilometer zu ihren Kameraden im Süden. Die Verorgungsroute lieferte über einem Gewirr an Dschungelpfaden durch Vietnam, Laos und Kambodscha das nötige Material für koordinierte Angriffe direkt uner der Nase der Südvietnamesischen und US-amerikanischen Verbündeten.

Mittagspause entlang der Straße. Ein Gutes hat der stets verhangene Himmel: spektakuläre Lichteffekte auf spiegelnden Oberflächen.

Julias sehnsüchtiger Blick Richtung Sonne, aber sie muss sich noch eins-zwei Tausend Kilomenter gedulden

Viel Regen macht viel Wasser macht viele Wasserfälle


Obwohl die Amerikaner mehr Bomben auf diese drei Länder warf, als im gesamten zweiten Weltkrieg verwendet wurden (!!!) , obwohl Napalm und Entlaubungsmittel wie Agent Orange ohne Unterschied schutzbietenden Dschungel und Menschenseelen verbrannten und vergifteten, konnten die Alliierten keinen entscheidenden Durchbruch erzielen und verloren Woche für Woche mehr Grund unter den Füßen.

(Von dem flächendeckenden Bomebenteppich sind bis heute mehrere Hundertausend Landminen irgendwo in den Bergen und Wäldern Vietnams verborgen.  Diese haben in den vergangenen 40 Jahren auch nach dem Ende des Krieges noch ca. 100.000 Tote und  Verletze gefordert und tun es bis heute. Der Einsatz von Napalm und Agent Orange hinterlässt bis heute erhöhte Raten von Fehlgeburten und Missbildungen sowie schwerstwiegende ökologische Schäden. Artikel dazu findet der interessierte Leser hier, hier, und hier.)

Mit dem Schmetterwurm sind wir einem dieser Dschungelpfade Ho Chi Minhs in den Süden gefolgt. Zu unserem Glück wurden inzwischen Asphalt und Betonplatten verlegt, sodass wir zumindest keine Machete vorm Motorrad schwingen mussten.


Wo Grünes Grün verschlingt: das Dschungeldickicht im nördlichen Vietnam

Besprechungspause: wahrscheinlich ist uns mal wieder der Sprit ausgegangen. Auf dem Bild auch: Jaspar, unser temporärer Reisegefährte.

Und noch ein Wasserfall

Das Vietnam der Gegenwart

Wir hatten, bevor wir nach Vietnam kamen, sehr unterschiedliche Erfahrungsberichte gelesen; viele davon waren negativ. Vietnam hat im Gegensatz zu anderen Ländern Südostasiens eine relativ niedrige Rückkehrrate von 6% (Quelle, Vergleich: 60% der Thailand-Touristen sind Rückkehrer). Von unfreundlichen Menschen war die Rede und von Abzocke von Touristen, wohin man schaut. Außerdem sei es sehr dicht besiedelt, vermüllt und verschmutzt. Ein Stück weit konnten wir diese Berichte nachvollziehen, immer dann wenn wir uns in touristisch erschlossenen Gebieten befunden haben. Ziemlich offensichtlich zahlt man dort als Westler das Doppelte vom wirklichen Preis, wird immer zuletzt bedient und eigentlich auch nicht allzu freundlich empfangen. Die Strände sind mit Plastikteppichen von Treibgut übersäht und nicht selten muss die Natur Platz machen fürs neue Mövenpick-Resort.

Ein völlig anderes Bild umgab uns, sobald wir uns auf den Schmetterwurm schwangen und unseren Ho-Chi-Minh-Pfad durch kleinere Bergorte und Städchen folgten, die eher abseits der üblichen Touristenrouten liegen. Die Vietnamesen, denen wir dort begegneten, hätten freundlicher kaum sein können. Dabei haben die Vietnamesen diese besondere, zart und leicht scheu lächelnde warmherzige Art - wir konnten nicht umhin sie ins Herz zu schließen. So viel Winken, so viele freundliche Gesichter, Einladungen zum Essen, offene aber respektvolle Neugierde. Selbst als der Schmetterwurm mal streikte, lud uns die Mechanikerfamilie direkt zu Mittagessen ins Wohnzimmer. Unter beständigen Reisschnaps-Toasts wird den zarten Ausländern "Fake Dog" (also Fleisch, das auf gleiche Art wie normalerweise Hund zubereitet wurde) serviert, weil Ausländer ja leider Gottes bei Hundefleisch immer rummäkeln. Es schmeckt hervorragend bis einem in den Sinn kommt, dass sie ja gar keine Ausländer erwartet hatten...

Eingeladen von der Mechanikerfamilie gibt es Reisschnapps und falschen Hund. Der eigentliche Star ist jedoch das scheu-warme Lächeln.

Hey bro! Whacha doin', bro?


Eine falsche Abzweigung  bringt uns auf geröllige Sandpiste. Mit viel Geduld und ordentliche Geruckel geht es weiter.

Wir haben viel Bewunderung empfunden, dafür, wie diese Menschen, die von Westlern nur Schlechtes erfahren haben, noch so offen und freundlich sein konnten. Als uns auf der Suche nach Essen die schmackhaften Düfte einer Dorfhochzeit in die Nasen stieg, wurden wir ohne Zögern von Braut und Vater zum Mitfeiern eingeladen. Kaum konnten wir unsere leeren Mägen mit den vielen Leckerbissen füllen, weil wir beständig mit jemandem Anstoßen sollten. Dem nicht genug wurden wir unter Johlen auf die Tanzfläche geführt und sollten mal zeigen, was die Weißnasen tänzerisch so draufhaben.

Auch kulturell haben wir uns den Vietnamesen oft sehr verbunden gefühlt. Nach der langen Zeit in China, in der wir immer wieder das Gefühl hatten, von verschiedenen Planeten zu kommen, hatten wir in Vietnam wieder das Gefühl auch ohne geteilte Sprache verstanden zu werden. Teile der vietnamesischen Lebensweise stimmen perfekt mit unseren Bedürfnissen überein.

Beispielsweise besitzt Vietnam eine sehr ausgereifte Kaffee-Kultur, schließlich ist Vietnam der zweitgrößte Kaffeeproduzent der Welt. Nachdem wir es in Russland, der Mongolei und in China sehr vermisst hatten, dass es keine Kultur des Kaffetrinkens, aber vor allem eigentlich des Rumsitzens, Redens und Irgendetwas-Trinkens gab, kamen wir in Vietnam voll auf unsere Kosten. Zu jeder Zeit des Tages sitzen in den unzähligen Cafés entspannte Menschen, reden und schauen in die Ferne. Weiter im Süden wird der Kaffe auf Eis getrunken, während man gemütlich in der schattigen Hängematte liegt.

Willkommen im Süden! Unser idyllischer Schlafplatz, keine 500m von der nachts ausgestorbenen Straße. Morgens gibt es kühle Erfrischung und reinigendes Bad im nebstgelegenem Fluss.


Mit dem Süden erreichten wir so etwas wie ein unausgesprochen drängendes Ziel von Sonne, Strand und später auch Meer. Uns schien, als fiel der gewöhnlicherweise schnelle Takt des Lebenspulses mit jedem Kilometer den wir ins südlichste Vietnam, dem Mekong-Delta, hinter uns brachten. Statt Bergtürmen und kurvigen Schluchten, dehnten sich weite grüne Reisfelder bis ans Ende des Horizonts. Aus einem riesigen flussdurchzogenen Becken ragten nur einige Feldwege am Rande der Reisfelder und Lotuswurzel-Felder und natürlich auf Holzpfählen gebaute Strohhäusschen heraus. Anfangs waren wir uns unsicher, ob die dicht besiedelte Region, sich für unsere Gewohnheit des Wildzeltens eignen würde. Jeder Zentimeter wird von den Menschen genutzt: Was nicht überschwemmtes Feld ist (und das ist so ziemlich alles), ist Teich für Entenfarm oder Fischaufzucht. Selbst die Hauseingänge und Zufahrtswege werden als Möglichkeit zum Erntetrocknen vollgestopft und blockiert. Und doch, halten wir an auf einem der Sandwege, die von der großen Asphaltstraße zu den Bauernhütten abzweigen, wird uns nicht nur das Aufstellen unseres Zeltes mit einem Lächeln gestattet, sondern auch eine Dusche im Waschtrog und morgendliche Reiswaffel mit Tee.

Mekong-Delta. Schon mehr als 2000 km hat uns der Schmetterwurm in die Tiefen Vietnams gebracht. Neben Himmel gibt es hier vor allem tausend Flüsse, überflutete Felder und authentische Menschen.

Unser Schlafplatz sind knappe 2 m² zwischen neu gesetzten Bananenstauden. Glück für uns, dass hier noch keine Ernte zum Trocknen liegt.


Wenn wir uns die Herzlichkeit und entspannte Lebenslust der Leute um uns so angeschaut haben, schien uns, dass sie es irgendwie raus haben. Die Menschen wirkten oft einfach glücklich, es ist schwer das in Worte zu fassen.

Vietnam hinterlässt einen ganz warmes und wohliges Gefühl in unseren Erinnerung. Wie ein streunder Kater die dumpfe Wärme eines nachglühenden Ofens genießt, ziehen wir nicht ohne einen Tropfen Traurigkeit weiter zu den Stränden Kambodschas.


Überfahrt zu einer Insel. Hier suchen wir vor allem Entspannung und Meer.


Jonathan schließt neue Freundschaften

Endlich endet unsere monatelange Flucht vor dem Winter


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