China: Xinjiangs dystopische Realität
Nicht aussteigen! Keine Photos! Jetzt aussteigen! Pass her! Jetzt durch den Ganzkörperscanner! Gesicht in die Kamera! Pass her! Jetzt durch die Gepäckkontrolle! Pass her! Was ist das? Wo kommen Sie her? Wo wollen Sie hin? Dieses Messer kann Ihnen nicht gestattet werden, mitzunehmen! Nein, das sind die Landesregularien! Unter keinen Umständen können wir Ihnen dies gestatten! Setzen Sie sich, bis wir Sie wieder ansprechen! Einsteigen ins Auto! Stopp! Sie dürfen das Auto auf keinen Fall verlassen!
Wer hätte es sich denken können? Wir sind in China - schon wieder...
Unsere Entschuldigung ist immer noch keinen Flug nehmen zu wollen, nicht zum Entführungsopfer im Konfliktsumpf Baltuschistan (Iran-Pakistan) werden zu wollen, nicht den Friedhof der Supermächte (Afghanistan) zu dem unseren machen zu wollen. Und dann sieht es auf der Landkarte aus wie eine einfache Entscheidung - dann fahren wir halt durch China - schon wieder.
Aber warum entschuldigen? Auf dieser Reise sind wir durch so einige Länder mit problematischen Regimen gekommen. Von menschenrechtsverachtenden Autokratien der starken Männer, kleptokratischen Demokratie-Faksimiles bis zu ethnisch "säubernde" Militärdiktaturen überlassen wir es jedem*r selbst, Länder wie Myanmar, Russland und China einzuordnen. Es ist keine leichte ethische Entscheidung einen Staat mit Visagebühren zu unterstützen und durch einen Besuch für andere zu "normalisieren". Richtig schwierig wird es, wenn es ein aktuelles nationales Projekt gibt, das die moralische Integrität des gesamten Staates in Frage stellt und sich darüber hinaus unglaublich harmonisch in eine langfristige und ganzheitliche Strategie einordnet. Und so ein nationales "Projekt" führt der chinesische Machtapparat in ihrem westlichsten Landesteil durch: Xinjiang.
In Xinjiang herrscht zurzeit eine neue Phase eines jahrzehntealten Konflikts zwischen lokaler Mehrheitsbevölkerung den muslimischen Uighuren und der anwachsenden Gruppe der staatstreuen Han-Chinesen, die im übrigen Land die erschlagende Mehrheit darstellen. Auch hier sind die Konfliktdimensionen vielfältig, grundsätzlich wird aber die Frage nach Eigenständigkeit verhandelt. Sehen die Uighuren ihr Land besetzt, ihren muslimischen Glauben in Gefahr und ihre natürlichen Ressourcen zweckentfremdet, pocht Bejing auf die Zugehörigkeit Xinjiangs zum chinesischen Zentralstaat. Gekämpft wird / wurde auf Seiten der Uighuren vor allem bis 2014 mit terroristischen Attacken, dem der chinesische Staat mit Kahlschlag-Repressionen antwortet.
Ein ganz normaler Markteingang in Xinjiang, übrall Zäune und Stacheldraht... (https://www.rfa.org/english/news/uyghur/abuse-10302019142433.html) |
Ethnische und religiöse Eigenständigkeit werden in China eigentlich in einem eng gesteckten Rahmen toleriert, solange diese keine politische (richtiger: soziale) Bedeutung gewinnen. Nichts ist aus Sicht der kommunistischen Partei so gefährlich wie ein selbst-organisierter Zusammenschluss von Menschen mit gleichen Interessen. Nach typischer Patriarchen-Art werden Menschen wie Regentropfen betrachtet: Es gilt Pfützen zu vermeiden, bevor sie an Stärke gewinnen und zu Flüssen werden. Dafür zieht der Staat Kanäle in die soziale Landschaft, damit am Ende kein unkontrollierbarer Mahlstrom die Partei verschluckt.
Der größte Kanal, den China in Xinjiangs soziale Landschaft zieht, sind die etwa 1000 Gefangenenlager, in denen 1 bis 1,5 Millionen Menschen (vor allem Uighuren) interniert sind (Stand November 2019, deutsch). Das ist 1/10 der gesamten uighurischen Bevölkerung. Über Jahre verschwinden "Staatsfeinde" in den Untiefen der Lager wegen Straftaten wie dem Nutzen von Whatsapp -zu verschlüsselt-, Tragen von längeren Bärten - zu muslimisch - oder die bloße Bekanntschaft mit Leuten, die schonmal weit gereist sind. Der klassische Kommunisten-Trick findet auch hier Einsatz: ein einzelner "Straftäter" bedeutet, dass es ein ganzes Netzwerk an suspekten Menschen um die Person herum geben muss: Freunde, Eltern, Kinder. Alle verhaften!
Und weil Massenüberwachung in Zeiten von konstantem Smartphone-Datenstrom ein zu süßes Dessert für ein totalitäres Regime ist, um es nicht zu nutzen, findet auch eine vorsorgliche Verhaftung aufgrund von vorhergesagten Verbrechen statt.
Dem Staat darf nichts entgehen |
In den Lagern verrichten die Gefangenen nicht nur Zwangsarbeit, sondern werden auch der kommunistischen Autorität unterworfen - also zu staatstreuen Ameisen umerzogen. Weg mit der eigenen uighurischen Sprache! Weg mit dem Islam! Hier wird fröhlich Mandarin und Staatsideologie in repetetiver Endlosschleife indoktriniert. Raus kommt, wer glaubhaft vermitteln kann dem chinesischen System treu ergeben zu sein. Dem Drang nach ewiger Harmonie folgend werden diese Lager vom
chinesischen Staat zu freiwillig besuchte Berufsbildungszentren
umgedeutet. Zitat eines Häftlings, das er in einem vom chinesischen Staat inszenierten Interview von sich geben darf: "Bevor ich hierher kam, hatte ich ein sehr schwaches Verständnis vom Gesetz. Ein Polizist hatte mir deswegen geraten dieses Berufsausbildungszentrum zu besuchen. Jetzt habe ich ein viel besseres Verständnis meiner Pflichten gewonnen."
Eins der vielen chinesischen "Bildungszentren" https://www.aznews.tv/absolutely-no-mercy-leaked-files-expose-how-china-organized-mass-detentions-of-muslims/ |
"Bilungszentren" schießen in den vergangenen Jahren wie Pilze aus dem Boden... |
All das ist schrecklich! Es ist schrecklich, dass so etwas jetzt - trotz weitreichender globaler Aufmerksamkeit - passiert, passieren kann.
Missverständnis I: Es geht der chinesischen Regierung (unseres Ermessens nach) nicht um kulturelle Spezifika wie Religion, eigene Sprache oder Ethnie. Islam oder Uighurentum sind nicht der Grund für das brutale Eingreifen der kommunistischen Partei in Xinjiang. Es ist kein Krieg gegen den Islam. Kein Krieg gegen die Kultur der Uighuren. Das ist die bloße Konsequenz der chinesischen Unterwerfungspolitik gegenüber jeglicher Form von Unabhängigkeit. China kann keine noch so kleine Vereinigung, Selbstorganisation oder individuelle Unabhängigkeit in seinem Staat tolerieren oder unkontrolliert lassen.
Das Beispiel der Hui-Chinesen zeigt, dass sich China grundsätzlich mit Religiösität arrangieren kann. Die assimilierten Hui können offen und ohne übermäßige Unterdrückung den Islam praktizieren. Sie sind im Lebensstil und sprachlich (chinesisch) angepasst und werden, solange sie das Machtmonopol der kommunistischen Partei nicht in Frage stellen, geduldet. Ebenso sieht es bei den vielen Minderheiten wie die Miao oder Yi mit der eigenen Sprache und Kultur aus. Kulturelle Eigenart ist als Ethno-Folklore sogar erwünscht, solange dies keinerlei politische Konsequenz oder Forderung nach Unabhängigkeit bedeutet.
Brutal niedergeschlagen und eingesperrt hingegen werden die Anhänger der Falun-Gong. Diese auf chinesischen Religionen und chinesischer Kultur beruhende pazifistische Bewegung fand schnell eine große Anhängerschaft von Millionen von Menschen. Eine schnelle und erfolgreiche Selbstorganisation kann von der alleinherrschenden Partei aber nicht geduldet werden, untergräbt sie doch ihren Führungsanspruch. Die Folge für die Bewegung? Ihre Anhänger wurden zu hunderttausenden in die Lager gesteckt, mit Arbeit zum Umdenken gezwungen und (nach starken Indizien) ihrer Organe beraubt. Der Konflikt mit den Uighuren ist also weder auf ihre Religion noch auf ihre Kultur zurückzuführen. Vielmehr ist der Kampf ein Ausdruck für Chinas Willen zur kompromissloser Kontrolle der Menschen und ihrer (selbst-) organisationsfähigen Demarkationslinien.
Missverständnis II: Sich gegen die grausame Behandlung der Bevölkerung Xinjiangs auszusprechen, bedeutet nicht, gewaltbereite Elemente unter den Separatisten oder die Separatisten generell zu befürworten. Uns geht es weniger darum, Partei für eine der Separatistenbewegungen zu nehmen, als anzuprangern, dass hier Millionen von Menschen unter Generalverdacht gestellt werden und bis in die privatesten Winkel ihres Alltags kontrolliert und staatlich terrorisiert werden (ganz unabhängig von ihrer politischen Meinung). Statt den Weg der Verhandlung und des Kompromisses zu gehen, hat sich die kommunistische Partei dafür entschieden, unbarmherzig auf die Bevölkerung Xinjiangs einzuschlagen. Was das bedeutet, haben wir schon gleich zu Beginn unserer "zweiten Halbzeit" in China mitbekommen.
Schon direkt an der pakistanisch-chinesischen Grenze gehen die zwanghaften auf Schikane ausgelegten Kontrollen los. Die Grenze besteht aus einem großen Blechkäfig mit Ganzkörper-Scannern, dessen Türen vorn und hinten nach unserer Einfahrt direkt geschlossen werden. Nach dem Prinzip "Wer keine Freiheit hat, kann auch nicht gegen sie verstoßen." dürfen wir erst gar nicht aus dem Auto aussteigen, vor allem nicht auf Klo und sowieso müssen wir ohne Angabe von Gründen erst einmal in unseren Autosesseln schmoren - auf angenehmen 4.693 m. Mit vielen chinesischen Befehlen werden wir dann durch die Scann-Anlage gelotst, während unsere Pässe den obligatorischen 5-fach Check von einer Hand zu nächsten bestehen müssen. Unser Taschenmesser und Julias russischer Pass fallen bei der intensiven Gepäckkontrolle auf und werden bis auf weiteres mit dem vagen Versprechen auf Rückgabe am nächsten Checkpoint konfisziert.
Mit Polizei-Eskorte geht es dann endlich weiter in die erste chinesische Siedlung 130 km weiter im Inland. Auch hier gibt es wieder das gleiche Spiel: 5-fache Pass- und Gepäckkontrolle, Befragung zum Zielort und Aufenthaltsgrund. Messer sind in Xinjiang übrigens generell verboten, wegen Terrorgefahr, teilt uns ein schmaler Beamtenjunge hochroten Kopfes mit. Zwischen uns entbrennt eine hitzige Diskussion über die Zubereitung unseres Abendessens ohne Messer, in dessen Verlauf sein Kopf immer roter wird und an deren Ende ein Vorgesetzter die Regeln bricht und uns das Messer zurückgibt. Wie wir später auf den Märkten sehen ist in Xinjiang tatsächlich jedes Messer und jede Fleischeraxt registriert und mit einer Kette am Boden verankert... "Wer keine Freiheit hat, kann auch nicht gegen sie verstoßen."
Missverständnis I: Es geht der chinesischen Regierung (unseres Ermessens nach) nicht um kulturelle Spezifika wie Religion, eigene Sprache oder Ethnie. Islam oder Uighurentum sind nicht der Grund für das brutale Eingreifen der kommunistischen Partei in Xinjiang. Es ist kein Krieg gegen den Islam. Kein Krieg gegen die Kultur der Uighuren. Das ist die bloße Konsequenz der chinesischen Unterwerfungspolitik gegenüber jeglicher Form von Unabhängigkeit. China kann keine noch so kleine Vereinigung, Selbstorganisation oder individuelle Unabhängigkeit in seinem Staat tolerieren oder unkontrolliert lassen.
Das Beispiel der Hui-Chinesen zeigt, dass sich China grundsätzlich mit Religiösität arrangieren kann. Die assimilierten Hui können offen und ohne übermäßige Unterdrückung den Islam praktizieren. Sie sind im Lebensstil und sprachlich (chinesisch) angepasst und werden, solange sie das Machtmonopol der kommunistischen Partei nicht in Frage stellen, geduldet. Ebenso sieht es bei den vielen Minderheiten wie die Miao oder Yi mit der eigenen Sprache und Kultur aus. Kulturelle Eigenart ist als Ethno-Folklore sogar erwünscht, solange dies keinerlei politische Konsequenz oder Forderung nach Unabhängigkeit bedeutet.
Brutal niedergeschlagen und eingesperrt hingegen werden die Anhänger der Falun-Gong. Diese auf chinesischen Religionen und chinesischer Kultur beruhende pazifistische Bewegung fand schnell eine große Anhängerschaft von Millionen von Menschen. Eine schnelle und erfolgreiche Selbstorganisation kann von der alleinherrschenden Partei aber nicht geduldet werden, untergräbt sie doch ihren Führungsanspruch. Die Folge für die Bewegung? Ihre Anhänger wurden zu hunderttausenden in die Lager gesteckt, mit Arbeit zum Umdenken gezwungen und (nach starken Indizien) ihrer Organe beraubt. Der Konflikt mit den Uighuren ist also weder auf ihre Religion noch auf ihre Kultur zurückzuführen. Vielmehr ist der Kampf ein Ausdruck für Chinas Willen zur kompromissloser Kontrolle der Menschen und ihrer (selbst-) organisationsfähigen Demarkationslinien.
Missverständnis II: Sich gegen die grausame Behandlung der Bevölkerung Xinjiangs auszusprechen, bedeutet nicht, gewaltbereite Elemente unter den Separatisten oder die Separatisten generell zu befürworten. Uns geht es weniger darum, Partei für eine der Separatistenbewegungen zu nehmen, als anzuprangern, dass hier Millionen von Menschen unter Generalverdacht gestellt werden und bis in die privatesten Winkel ihres Alltags kontrolliert und staatlich terrorisiert werden (ganz unabhängig von ihrer politischen Meinung). Statt den Weg der Verhandlung und des Kompromisses zu gehen, hat sich die kommunistische Partei dafür entschieden, unbarmherzig auf die Bevölkerung Xinjiangs einzuschlagen. Was das bedeutet, haben wir schon gleich zu Beginn unserer "zweiten Halbzeit" in China mitbekommen.
Schon direkt an der pakistanisch-chinesischen Grenze gehen die zwanghaften auf Schikane ausgelegten Kontrollen los. Die Grenze besteht aus einem großen Blechkäfig mit Ganzkörper-Scannern, dessen Türen vorn und hinten nach unserer Einfahrt direkt geschlossen werden. Nach dem Prinzip "Wer keine Freiheit hat, kann auch nicht gegen sie verstoßen." dürfen wir erst gar nicht aus dem Auto aussteigen, vor allem nicht auf Klo und sowieso müssen wir ohne Angabe von Gründen erst einmal in unseren Autosesseln schmoren - auf angenehmen 4.693 m. Mit vielen chinesischen Befehlen werden wir dann durch die Scann-Anlage gelotst, während unsere Pässe den obligatorischen 5-fach Check von einer Hand zu nächsten bestehen müssen. Unser Taschenmesser und Julias russischer Pass fallen bei der intensiven Gepäckkontrolle auf und werden bis auf weiteres mit dem vagen Versprechen auf Rückgabe am nächsten Checkpoint konfisziert.
Mit Polizei-Eskorte geht es dann endlich weiter in die erste chinesische Siedlung 130 km weiter im Inland. Auch hier gibt es wieder das gleiche Spiel: 5-fache Pass- und Gepäckkontrolle, Befragung zum Zielort und Aufenthaltsgrund. Messer sind in Xinjiang übrigens generell verboten, wegen Terrorgefahr, teilt uns ein schmaler Beamtenjunge hochroten Kopfes mit. Zwischen uns entbrennt eine hitzige Diskussion über die Zubereitung unseres Abendessens ohne Messer, in dessen Verlauf sein Kopf immer roter wird und an deren Ende ein Vorgesetzter die Regeln bricht und uns das Messer zurückgibt. Wie wir später auf den Märkten sehen ist in Xinjiang tatsächlich jedes Messer und jede Fleischeraxt registriert und mit einer Kette am Boden verankert... "Wer keine Freiheit hat, kann auch nicht gegen sie verstoßen."
https://www.economist.com/briefing/2018/05/31/china-has-turned-xinjiang-into-a-police-state-like-no-other |
Als wir endlich die Grenzstation verlassen dürfen, haben wir schon keine Lust mehr auf dieses Land der Zäune in Hirn und Landschaft. Aber wie immer wenn wir unsere Köpfe über einen Topf heißer chinesischer Nudelsuppe hängen lassen, beleben sich unsere Geister und wir versöhnen uns mit dem Gedanken, dass ab morgen alles besser wird. Ja, nein. Denn am nächsten Morgen geht es zwar per Anhalter durch die fantastische Berglandschaft des östlichen Pamirs, aber auch nur bis zur ersten Vollsperrung der Autobahn nach etwa 50 km. Der gesamte Verkehr wird durch eine Polizeistation geleitet, bei der Han-Chinesen nach Augenscheinkontrolle und Gesichtserkennung durchgewunken werden, Uighuren aber durch einen Ganzkörper-Scan und Kamera-Kontrolle mit grün, gelb, rotem Ampelsystem gejagt werden. Findet das intelligente System dein Bewegungsmuster auffällig oder liegt eine Warnung gegen dich vor, wirst du rausgezogen und zum Verhör gebeten.
Als Ausländer war das auch für uns die Regel. Sehen die Kontrolleure eine Weiẞnase (wie uns) herrscht erst einmal wirre Aufregung und der Chef wird gerufen. Eine halbe Stunde warten (das übliche Schmorenlassen) und dann beginnnt das Interview. Wo kommt ihr her? Wo wollt ihr hin? Wo schlaft ihr heute Nacht? Etc. Schnell merken wir, dass wir uns, wenn wir darauf keine Antworten haben, besser schnell welche ausdenken. Nach der 5-fachen Passkontrolle und ein, zwei Gesichtsphotos müssen wir erst einmal wieder warten. Der Oberchef wurde per WeChat (chinesische und staatlich kontrollierte WhatsApp-Alternative) hinzugezogen. Gibt er das Okay dürfen wir nach erneuter Passkontrolle weiter.
Endlich freie Fahrt - bis exakt das gleiche in 50 km wieder passiert. In fast ganz Xinjiang wird nämlich der Personenverkehr alle 50 bis 100 km mit futuristisch anmutenden Polizeistationen und omnipräsenter Gesichtserkennung kontrolliert.
Da wir trampen, nehmen auch unsere Han-chinesischen Fahrer zwangsweise Teil an diesem Battle Royale der Sicherheitsinfrastruktur. Anfangs warten sie noch geduldig und sind voller Vertrauen in die Wichtigkeit dieser staatlichen Sicherheitsmaßnahmen. Mit Interesse verfolgen sie die einzelnen Schritte der Prozedur, denn normalerweise werden sie ja einfach durchgewunken. Nur wenn wir zum vierten Mal eine halbe Stunde warten müssen, zeigt sich ein kleiner Bruch in dieser ewig-harmonischen, heilen Welt und beim verabschieden ist es nicht selten, dass wir eilig am Wegesrand abgeladen werden.
Gestrandet... |
Nach einer letzten riesigen Kontrolle kommen wir an die Stadtgrenzen von Kashgar, der alten Seidenstraßenperle und inoffiziellen Hauptstadt der Uighuren. Wir hoffen entgegen aller realistischen Einwände auf ein wenig traditionelle uighurische Kultur und Lebensart. Stattdessen sind wir angekommen in der zukünftigen Vergangenheit. 1984. Grellblinkende Polizeisäulen verkünden alle 500m eine neue Polizeistation, Gitter und Betonsperren ziehen Verhaltenslinien auf die Straßen und stetig wacht der Blick des allsehenden Kamera-Auges. Polizisten marschieren zu dritt durch die Straßen kontrollieren jeden Laden Hausnummer für Hausnummer. Bewaffnet mit Speer und Schild wird morgens und abends die Niederschlagung des Aufstands geprobt. Vor der Polizeistation teilen sich die Polizisten in Demonstrant und Verteidiger, damit auch jeder vorbeifahrende Uighur weiß, der chinesische Staat ist schon vorbereitet. Von frühmorgens bis spätabends schleichen leere Polizeitransporter zu dritt im Schritttempo durch die Straßen. Ihre Sirenen hallen von den Wänden mit keinem anderen Zweck und Ziel als Angst in die Herzen der Bevölkerung zu säen. Die Botschaft ist klar: Wir sind hier. Wir sind bereit. Es kann jeden von euch treffen.
Die Staatsmacht ist allgegenwärtig |
Was vom Sicherheitsapparat der Partei an uighurischer Kultur übrig gelassen wurde, wird dem chinesischen Tourismus als leicht verdauliche Ethno-Folklore portionsgerecht serviert. Denn neben der Verfolgungskamapagne haben Chinas Machthaber die Region Xinjiang zur Tourismus-Zone erhoben. Die Han-Chinesen sollen nämlich bloß nicht vergessen, dass auch dieses Land ganz fest zu China gehört. Mit den üblichen Mitteln wird dabei die alte Kultur zerstört, um sie zu erhalten. Der Abriss und "schönere" Wiederaufbau der Altstadt ist nur ein kleiner Teil des größeren Bestrebens, dem neuen chinesischen Mittelstand eine nostalgische Abwechslung zu bieten. Nachdem das alte Stadtleben ausgelöscht, Kopfsteinpflaster begradigt, Hintergassen gesäubert wurden, gilt es die Touristenmassen mit Seidenstraßenschmuck und ughurischem Essen zu stopfen. Laden auf Laden folgen dem chinesischen Modell des kompromisslosen Verkaufs von Schnickschnack, während die Touristenhorden aus überdimensionierten Golfplatzwägen Fotos schießen. Vor dem neugebauten Tor tanzt ein alter Uighur im Blitzlichtgewitter des ihn umschließenden Touristen-Rings, posiert zur Freude der zahlungsstarken Chinesen mit gefrorenem Lächeln im Gesicht.
Jonathan bewegt sich demonstrativ nur im pakistanisch/muslimischen Outfit durch die Stadt |
Der sonntägliche Tiermarkt bei Kashgar, der wohl einzige Ort, der noch etwas Authentizität behalten durfte. Nicht einmal durchsucht wird man wenn man ihn betritt, eine kleien Wohltat an "Freiheit" |
Für die Schafe ist es schon weniger frei |
Im restlichen Kashgar sieht es dann wieder eher so aus und das monumentale Mao Denkmal darf nicht fehlen |
Mindestens genauso omnipräsent wie Mao ist natürlich Xi Jinping, der mit seinem riesigen Gesicht von Häuserwänden zu einem spricht... |
...und sich als Papa der Nation nur zugerne mit ujghurischen Kindern präsentiert, dessen Eltern durch seine Politik der ethnischen "Harmonie" interniert und gefoltert werden |
Nach Kashgar ist uns eigentlich nur noch übel in diesem Land. Wir wollen so bald es geht raus. Zynischerweise bewegen wir uns beim Trampen gerade mit den Touristen fort. Denn die meisten Uighuren haben weder ein Auto noch die Kapazität sich in eine fremdartige Situation zu begeben. Skuril wird es als wir unser Tageskilometerziel verfehlen und in Aksu stranden. Der Fahrer lässt uns ganz Pflichtbewusst inmitten der Stadt an einer Polizeistation heraus (Hier werden sie euch helfen...ist klar.). Wir flüchten durch die Abenddämmerung in einen Park nahe der Autobahnauffahrt. Der frisch angelegte Platz hat zwar noch wenig Grün zum Prahlen, aber schon ein paar Jugendliche die unbedingt ein Photo mit uns machen wollen.
Wir warten auf die letzten Sonnenstrahlen, damit wir uns in einem kleinen Waldstück für die Nacht verstecken können, als uns ein einzelner hockender Mann inmitten des Parks auffällt. Abwechselnd schaut er zu uns und auf sein Handy, auf dem die Candy-Crush-Blöcke flimmern. Wir schauen uns gegenseitig an und schütteln den Kopf. Nur nicht paranoid werden. Wir drehen noch eine Runde durch den Park und da marschiert eine anzugtragende Frau an ihrem Auto vorm Eingang hin und her. Schaut uns zu und telefoniert. Komisch... Ruhig bleiben und abwarten. Als die Dunkelheit endlich Einzug nimmt, verschwinden wir in das Waldstück. Taschenlampen ziehen uns hinterher und das Duo von Candy-Crush-Man und Anzug-Lady stehen plötzlich vor uns. Beide zücken ihre Partei-Ausweise und stellen sich vor als außenpolitische Funktionäre / Agenten.
Sie fragen: "Was macht ihr hier?"
Wir sagen: "Wir wollen hier schlafen."
Sie sagen: "Es ist nicht sicher. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen."
Wir sagen: "Vielen Dank. Wir brauchen keine Hilfe."
Sie sagen: "Wir sind hier, um Ihnen zu helfen. Wir werden sie zu einem Hotel bringen."
Wir fragen: "Sind wir verhaftet?"
Darauf entspinnt sich ein höfliches Geplänkel, in dem wir unter beständig freundlichem Lächeln darauf hingewiesen werden, dass wir unter keinen Umständen hierbleiben könnten, der Sicherheit und Angenehmheit wegen. Man sei hier, um uns zu helfen. Wir unsererseits diskutieren eine Stunde darüber, dass wir nicht verfolgt werden und lieber allein gelassen werden wollen. Mit endloser Ruhe und schöner Gestik werden wir zwar nicht verhaftet, aber im Auto der Anzug-Lady in die Lobby des besten Hotels zwangstransportiert. Wir weigern uns strikt, für ein Hotelzimmer zu bezahlen, und wollen zurück zur Autobahnauffahrt. Das kann natürlich nicht gestattet werden und so schlafen wir mit unserem Aufpasser Candy-Crush-Man in der Lobby. Schnarchend verlassen wir ihn am frühen Morgen, um zur Autobahnauffahrt zu laufen. Geweckt vom Management hetzt er uns eillig hinterher, und damit seine Tarnung nicht auffliegt, lässt er einen "unauffälligen" Beschattungsabstand von 30m. So tapern wir gemeinsam zur Autobahnauffahrt, machen Frühstückspause in der Kantine mit ihm Candy-Crush spielend vorm Schaufenster, stehen daumenstreckend auf der Straße und lassen ihn aus heiterem Himmel fallend und panisch die Vorgesetzten anklingelnd zurück, als sich einer der Touristenautos unserer erbarmt.
Während wir uns zur Flucht vor den Staatsagenten beglückwünschen, wird uns klar, dass wir raus müssen aus Xinjiang und zwar so schnell wie möglich. Wir entschließen uns den direkten Weg zur kasachischen Grenze zu nehmen und die Tianshan-Berge zu kreuzen. Es beginnt das bekannte Spiel von Polizeistationen, die alle 50 bis 100km von unserem Erscheinen überwältigt sind und kleine Verhöre mit uns führen. Für den chinesischen Normalpolizisten sind wir ein Spektakel: als Tramper erscheinen wir im xinjiang'schen Nirgendwo ohne offiziellen Auftrag oder Erlaubnis ohne eigenes Fahrzeug als Weißnase. Die drei Fragezeichen Han-Version.
Im Zwiespalt von Touristen-Attraktion und Spionageverdacht stellen wir eine Überforderung für die autoritätshörigen polizeilichen Dienstboten dar. Der Chef muss entscheiden, und auch der ist hin und her gerissen zwischen guter außenpolitischer Wirkung (wir wollen Ihnen helfen) und gepflegten Misstrauen gegenüber so viel Freiheitsgeist. Uns erstaunt selbst dass wir immer wieder mit völlig frei erfundenen Tageszielen und nicht vorhandenen Hotelbuchungen unsere Weiterfahrt aushandeln können. Bei der Datenmasse die China über uns via Sicherheitskameras und Reiseroute bei Visavergabe etc. sammelt, sollte man meinen, dass der Staat besser darin wäre, uns zu überwachen.
Die letzten 150km brechen an, bevor wir auf der großen Autobahn nach Kasachstan landen, unsere Aussicht ändert sich zum 15. Mal von sandigen windverwehten Felskanten zu blutroten Canyons zu Bergsee und Grüner-Wiese-Romantik. Schwarz ballen sich die Wolken zusammen, als wir wieder einmal vor einem Schlagbaum mit Polizisten stehen. Die ersten Blitze zerreißen den Himmel und ein bauchiges Gedonner durchstößt die Luft. Während unsere Pässe die übliche Kette von Menschenhänden durchwandert, kommt ein lächelnder Polizist vom Telefonieren wieder. "Unsere ausländischen Freunde (sic!) können hier leider nicht weiterfahren." Entgeistert fangen wir an zu streiten, aber diesmal gibt es kein Weiterkommen. Die Polizisten schicken uns auf einen 1400 km langen Umweg - ohne Begründung. Frustriert verdonnern wir sie uns wenigstens eine Weiterfahrt zurück zu organisieren, da sie unsere Mitfahrgelegenheit inzwischen weitergeschickt haben. Nach einigen gescheiterten Versuchen geben sie einem uighurischen (bittere Ironie des Lebens) LKW-Fahrer den Auftrag uns zurück zu bringen. Dieser erzählt uns als erstes, warum wir an dieser Stelle nicht weiter durften: Gewaltige Gefangenenlager sind an der Straße verteilt. Ausländer sollen die besser nicht zu sehen bekommen. Erbittert und verzweifelt schildert er uns mit Handzeichen das Los der Uighuren.
Ein paar Eindrücke von der Vielseitigkeit Xinjiangs |
Die nächsten drei Tage verbringen wir dauertrampend, um so schnell wie möglich aus dieser Tragödie zu entfliehen. Die polizeilichen Kontrollen lassen wir über uns ergehen, versuchen uns möglichst aus Städten fern zu halten und versteckt zu campen. Als wir endlich die Grenze erreichen, bricht sich Erleichterung Bahn. Nur noch eine letzte Ausreise-Kontrolle und wir sind raus. Aber auch hier hat sich China noch eine Anekdote ausgedacht. Während unsere Gedanken schon in der Freiheit Kasachstans weilen, werden wir an der Zollstelle angehalten und gefragt, ob wir Landkarten hätten. Verdutzt bejahen wir und holen (unwissend wie ein Opferlamm) unsere Chinakarte heraus. Um diese sammeln sich dann 4 oder 5 offizielle Mitarbeiter*innen und studieren jede Einzelheit. Nach 10 Minuten wird die Chefin hinzugerufen, die uns mitteilt, dass die Karte wegen falscher Darstellung der chinesischen Grenzen konfisziert ist. Jetzt wird's emotional (auf beiden Seiten). Wir haben diese Karte in Deutschland gekauft und über ein Jahr mitgeschleppt, unsere Reiseroute Stück für Stück eingezeichnet und kein bisheriger chinesischer Grenzübergang hat sich darum geschert. ABER, kommt der Wiederspruch. ABER: die Insel Tawain ist fälschlicherweise als Republik China eingezeichnet und nicht wie es der kommunistischen Staatsideologie entspricht als Provinz der Volksrepublik China. Ein Vorschlag Julias das fehlende "Volks-" einfach davor zu kritzeln wird abgelehnt. Auch die Senkaku Inseln wären fälschlicherweise als japanisch ḱlassifiziert. Entgegen jeder de-facto Realität wird die Chance zur eigenen Interpretation der Dinge durchgesetzt. Der letzte Protest wird mit einem "Wenn sie sich nicht sofort beugen, rufe ich die Polizei." niedergeschmettert. Und wieder einmal setzt sich China durch. Statt Realitäten anzuerkennen und durch Verhandlungen und Kompromisse schrittweise zu verändern, wird die eigene politische und wirtschaftliche Macht unbarmherzig eingesetzt, um unilateral die eigenen größenwahnsinnigen Machtfantasien durchzusetzen.
Wir waren in China, schon wieder. Diesmal, sagen wir uns, war es das letzte Mal.
Grenzübergang zu Kasachstan, keine Möglichkeit der Machtdemonstration wird ausgelassen |
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